Angst vor Lyrik von Moritz Hürtgen

Angst vor Lyrik von Moritz Hürtgen.

Angst vor Bahnhöfen. Eifersucht. Frauen. Gott. Hunden. Konservativen. Licht. Nachbarn. Prüfungen. Sekten. Theater. Überfremdung. Diese und 90 weitere Ängste tauchen in Moritz Hürtgens Gedichtband Angst vor Lyrik auf. Warum aber soll man sich nebst all den anderen Ängsten gerade vor der Lyrik fürchten? Es gibt offensichtlich ja genug andere Dinge, vor denen man Angst haben könnte. Die Antwort dazu ist aber ganz einfach: Hürtgens Lyrik legt unsere Ängste offen, seziert die offengelegte Fleischwunde weiter und lehrt uns das Fürchten. Vor unserem kleingeistigen Denken, vor unseren absurden Phobien und Problemchen und vor dem Spiegelbild, welches hier so direkt vorgehalten wird.

Hürtgens Gedichte überraschen bereits durch ihre Eigenschaften und ihren Aufbau. Sie verfolgen alle eine (mehr oder weniger) strikte Form und sind gereimt. Eigenschaften, die man in der zeitgenössischen Lyrik selten mehr vorfindet. Die meisten Gedichte bestehen aus drei Strophen à vier Zeilen mit drei- oder vierhebigen Jamben. Die Reimschemata sind meist schlicht (abab, aabb, abba) und die Reime einigermassen sauber. Ungewöhnlich für Lyrik ist auch, dass die Reime stellenweise sogar zweisilbig sind, was sonst eigentlich nur im Rap vorkommt (dort dann aber bis vier oder fünfsilbig). Bereits die Form dieser Gedichte mutet also komisch an.

Angst vor Überfremdung

Noten schneiden schwüle Luft,
Fremde Zungen murmeln Sprüche.
Finster wird's, bizarrer Duft
Kriecht aus irgendeiner Küche.

Süßlich-herb - so riecht der Tod
Und bald werden sie dich würzen.
Deine kleine Stadt, sie droht,
Nachts ins Chaos umzustürzen.

Sperr dich ein, o deutscher Christ!
Mach das Licht aus, geh zu Bette.
Morgens, wenn du sicher bist,
Wecken dich die Minarette.
Moritz Hürtgen: Angst vor Lyrik, S. 18

Jedes Gedicht im Band ist einer konkreten Angst gewidmet. Das thematische Spektrum ist breit, sowohl die Angst vor dem Terror als auch die vor konkreter Poesie wird gleichberechtigt und in Strophenform abgehandelt. Natürlich, diese Gedichte sind ein Zeitkommentar. Die Angst vor irgendetwas, sie scheint uns ja immer zu begleiten, ob wir nun in die U-Bahn steigen, in die Schule gehen oder das Freibad besuchen. Angst ist der ständige Begleiter des modernen Menschen und der wird hier vielstimmig beleuchtet. Die von Hürtgen beschriebenen Ängste rangieren von berechtigt & zeitgeistig zu komplett lächerlich, von gross & bedrohlich zu klein & willkürlich. Hürtgen aber bewertet die Ängste nicht, sie haben alle ihren Platz. So ist der zeitkommentatorische Aspekt auch nicht zwingend im einzelnen Gedicht zu suchen, sondern in ihrer Komplizenschaft als Gesamtmenge.

Denn durch die Vermengung aller Gedichte entsteht plötzlich ein Gesellschaftsbild. Von einer Gesellschaft, die Fremde fürchtet, aber auch die Eigenen. Sowohl die Frauen wie auch die Männer. Gott genauso wie das Ende. Konservative wie Progressive. Man scheint fast behaupten zu wollen, dass es gar nicht um die Themen unsere Ängste geht, sondern um die Angst selbst. Die blanke Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Genauso wie sich Albert Camus in so einem Fall das Absurde vornimmt, macht dies auch Moritz Hürtgen.

Angst vor Lyrik von Moritz Hürtgen.

Man muss die Gedichte nämlich nicht nur auf ihre Inhalte, sondern auch auf ihre Wirkung hin genauer anschauen. Sie sind nämlich witzig. Sehr sogar. Hürtgen erzielt den Witz aber nicht dadurch, dass er sich über die Inhalte der einzelnen Ängste lustig macht, sondern in dem er sie meistens absurdisiert und in einen losgelösten Kontext stellt. So wird die Angst vor Kindern etwa mit dem allmählichen Verlust der Zähne im späten Lebensalter gleichgesetzt oder der Angst vor dem Einschlafen wird mit übermässigem Cola Konsum begegnet, nur um dann beim Schäfchenzählen “einzuchrrrrrrrrrrr…”. Die Mittel des Absurden dienen Hürtgen gekonnt dazu, Witz zu erzeugen, ohne unsere absurden Ängste im Einzelnen übermässig zu problematisieren. Die Ausflucht aus der Gesellschaft ist somit die gleiche wie bei Camus. Nur wer die Absurdität der eigenen Ängste erkennt, kann darüber lachen und ihnen furchtlos begegnen.

Zu den Gedichten gesellen sich 24 Illustrationen von Leo Riegel, die in vollflächiger Farbigkeit einzelne Gedichte um eine Bildebene erweitern. Überhaupt, der Band überzeugt nicht nur inhaltlich, sondern ist auch sehr schön ausgestaltet. Farblich komplett in rot, schwarz und weiss gehalten, was sich sowohl durch die Illustrationen als auch Vorsatz, Cover und Einband zieht.

Moderne Lyrik hat vielfach etwas verkopftes. Das haben die Gedichte von Moritz Hürtgen nicht, sie haben zwar ihre Subtilitäten, aber vorerst sind sie einfach wahnsinnig witzig. Weil es Hürtgen eben schafft, uns die Angst zu nehmen. Weder Smalltalk noch Spinnen müssen wir nach der Lektüre dieses Buches angstvoll begegnen. Die Ängste werden nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, aber sie werden absurdisiert und damit dem bedrohlichen Ursprungskontext entnommen. Selten (vermutlich nie) hat in Ängsten schwelgen so viel Spass gemacht.

Angst vor Lyrik von Moritz Hürtgen.

Moritz Hürtgen: Angst vor Lyrik.

Mit Illustrationen von Leonard Riegel.

144 Seiten.

Kunstmann.

Webseite zum Buch

Zum Buch: bedruckter Schutzmschlag · geprägter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (rot) · Klebebindung

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Der Antje Kunstmann Verlag enstand 1976, als zwei Verlage zusammengeführt wurden. Zuerst noch unter anderem Namen, trägt der Verlag seit 1990 den Namen der Verlegerin. Literatur und Sachbuch bilden die Kernkompetenzen des Verlags, der mit seinen Büchern «Leselust und das Denken» fördern will.