Die ganze Welt im Kondensat

Die Chamäleondamen von Yvonne Hergane

Vier Frauen aus vier Generationen. Eine Familie und ihr langer Weg von Rumänien nach Deutschland. Mit unablässigem erzählerischen Blick erzählt Yvonne Hergane in ihrem Romandebüt die Geschichten dieser vier Frauen. Voller Sorgfalt und mit besonderer Sprachmacht.

Die ganze Welt im Kondensat

Nach ihrer langweiligen Hochzeitsnacht springt Edith aus einem Fenster in Reschitza und lässt ihren Gatten Toni stehen, ihr Herz gehörte da und auch später Viktor, hinter dessen Fenster sie wenig später verschwindet. Nach der Geburt ihrer ersten Tochter Marita weiss Edith: nie wieder! Marita wird es ähnlich gehen, ihre Tochter Ellie wird bei der Grossmutter Edith aufwachsen und ihr einziges Kind bleiben. Und auch Ellie wird nur eine Tochter haben, Hanne. Und mit diesen vier Frauen — Edith, Marita, Ellie, Hanne — ist der Bogen aufgespannt, für den grossen Familienroman von Yvonne Hergane.

Hergane erzählt die Geschichte der vier Frauen in kurzen Episoden und springt sowohl in der Zeit, wie auch zwischen den Figuren, umher. Schnell entspannt sich so ein Bogen, der die Frauen erzählerisch verbindet und verknüpft, obwohl zwischen den einzelnen Episoden viele Jahre und viele Orte liegen. Beginnen tut alles in Reschitza, Rumänien. Die Familie von Edith ist Teil der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien und gehört damit von Anfang an nicht so recht dazu. Die nächsten Jahre, Jahrzehnte, das nächste Jahrhundert, wird eine Übersiedelung nach Deutschland bringen und mit ihr alle Folgen, die sich dadurch ergeben werden. Zeitlebens werden die Frauen gegen die Umstände kämpfen, sich ihnen verwehren und da, wo es nötig sein wird, an sie anpassen.

Sprachlich sind die Versatzstücke des Romans opulent und mit poetischer Sprachwirkung zugepackt. Die Sprache ist dadurch sehr dicht und dickflüssig und genauso wie guter Hustensaft, in kleinen Dosen wunderbar anders und anregend. Stellenweise ist es aber auch zu viel des Guten, so laufen etwa die Kinder laufen «sehnigleicht », der Brotlaib ist «glitschfeucht» oder Hanne fühlt eine «silberkalte Gänsehautliebe», um jetzt hier nur ein paar zufällig und schnell herausgepickte Beispiele aufzuführen. Stellen wie diese, finden sich im Band zuhauf. Erstaunlicherweise funktioniert diese überladene Sprache aber oftmals gut, verschwindet fast im Hintergrund, weil sie so gut zum erzählerischen Blick passt, der mit honigverklebtem Mund diese Geschichten nacherzählt.

Die Autorin versteht es bei aller Sprachspielerei ausgezeichnet, auf wenigen Seiten in das Leben der Frauen hineinzuführen und dabei unendlich viel erzählerische Sorgfalt walten zu lassen und Empathie zu transportieren. Sie erschafft damit eine Welt, in der allen Grausamkeiten, allen Steinen im Weg, mit einem unverwüstlichem Familienband begegnet wird. Die Beziehungen zu den Männern sind oft schwierig, die ökonomischen Verhältnisse meist prekär, die politischen sowieso. Aber genauso wie die langzungigen, titelgebenden Tierwesen, wissen sich die Frauen auch darin zu behaupten. Das ist oft berührend und meistens grausam gut.

Wenn die Welt, so wie sie sich momentan präsentiert, eine gerechtere wäre, ich bin mir sicher, über den Roman von Yvonne Hergane wäre landauf, landab gesprochen worden. Dort hätte jemand vielleicht die Episodenartigkeit kritisiert und hier jemand den sprachlichen Zucker bemängelt, aber im Grossen und Ganzen wären wir uns einig, dass das ein grosser Roman ist. Weil er so unglaublich viel will, weil er in seinen besten Momenten vom Hundertsten ins Tausendste wechselt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und weil er so viel über seine Figuren zu erzählen weiss. Weil er so dicht und zugepackt ist und weil er, trotz allem sprachlichen Übermut, in den wichtigen Momenten die richtigen Knöpfe drückt.

Leider ist die Welt nicht so gerecht, wie man sie sich manchmal wünscht. Das sollte aber niemanden daran hindern, diesen Roman zu entdecken und die Welt davon wissen zu lassen.

Die Chamäleondamen von Yvonne Hergane

Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen.

240 Seiten.

Maro.

Webseite zum Buch

Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (blau) · fadengeheftet

Mehr über die Bücher des Maro Verlags:
Keine Schnaps- aber zumindest eine Bieridee war der Maro Verlag bei seinem Entstehen. Der Verlag entstand 1969 an einem Biertisch. Zuerst war es die Zeitschrift «Und», seit 1970 werden in Augsburg aber hauptsächlich Bücher gedruckt. Dies unter anderem mit den ersten deutschen Übersetzungen der Gedichte von Charles Bukowski und vielen weiteren Beat-Poeten. Die Schwerpunkte bilden seit jeher Lyrik und Literatur. 2002 mit dem Kurt-Wolff-Preis ausgezeichnet.