Die Vollkommenheit unpräziser Formen – Die Jakobsbücher von Olga Tokarczuk

Übersetzt aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein

Einen wahren Koloss hat Olga Tokarczuk mit ihrem neuesten Roman niedergeschrieben. Die Geschichte von Jakob Frank, einer der schillerndsten Persönlichkeiten des europäischen 18. Jahrhunderts, gefasst in einen Roman. Das ist nicht nur dem Gewicht des Bandes wegen ein gewichtiges Stück Literatur.

Die Vollkommenheit unpräziser Formen

Eine alte Frau stirbt und sieht fortan Alles. Gefangen in einem Zwischenstadium von Leben und Tod, betrachtet Jenta die Lebenden, ihre Züge durch die Landschaften Osteuropas, ihre Intrigen, ihre Liebschaften, ihre Gottesfurcht, ihre falschen Spiele und ihren Fokus auf einen, den man heute als Sektenführer bezeichnen würde. Jenta wird sich das ihrige Denken, aber genauso wenig wie die Erzähler des Bandes, wird sie je ihre Position kundtun. Die Weigerung Position zu beziehen, zieht sich in aller Konsequenz durch den Roman und bettet ihn dadurch in eine Erzählperspektive, die mit äusserster Faszination dem eigenen Gegenstand folgt, diesen aber nicht verklärt oder verurteilt, sondern zur verräterischen Selbstentfaltung bringt.

Dieser Jakob Frank ist eine zutiefst faszinierende Gestalt. Bereits der Titel zeigt ganz geschickt, wo sich der selbsternannte Prophet gerne gesehen hätte. Aus jedem erdenklichen Blickwinkel wird in der Folge die Geschichte dieses Mannes und seiner Gefolgschaft erzählt. Seien es nun die bescheidenen jüdischen Anfänge, die ursprüngliche Unterstützung durch Rabbiner, die Heirat mit seiner jungen Frau, die spätere Konvertierung zum Christentum, unterstützt durch Kirchenvertreter aus allen erdenklichen Ländern, kein Blickwinkel bleibt ausser Acht, kein Stein dieser Geschichte bleibt unberührt. Alle, die Jakob Frank begegnen, sind angetan von ihm, seinem Charisma und seiner Ausstrahlung, alle sehen in ihm Aussergewöhnliches, obwohl es eigentlich nie im Zweifel steht, dass Frank ein Scharlatan, ein falscher Messias, ein Verführer der Massen war, dem mehr an der eigenen Bereicherung lag als an der Befreiung der Seelen seiner (ursprünglich) jüdischen Genoss*innen.

Die Geschichte ist zu verzettelt, zu vielfältig erzählt und zu umfassend, um ihr hier einen gebührenden Umriss verpassen zu wollen. Es ist auch nicht die Geschichte selbst, die diesen historischen Roman ausmacht, es ist die Art, wie sie erzählt wird. Tokarczuk erzählt breit, lässt Nebenfiguren zu Wort kommen und ganze eigene Leben leben, ohne weiter mit Frank in Berührung zu kommen. Das ist ein geschickter Schachzug. Das Potpourri an Stimmen, Figuren, Geschehnissen, bedeutenden und weniger bedeutenden Leben verdichtet sich zu einem Roman über Umbrüche und Umwälzungen und damit zu einem Porträt einer Zeit und eines Ortes. Damit gibt sich der Roman auch gleich selbst die Erklärungen, wie einer wie Jakob Frank kommen konnte, um die Welt in seinen Bann zu nehmen. Es ist aber keine übererklärte Literatur entstanden, die keine Leerstellen zulässt, sondern ein geschickt gewebter Flickenteppich, der lediglich dem Umfang her an eine Enzyklopädie erinnert, nicht seiner Erzählart wegen.

Die Übersetzung aus dem Polnischen wurde von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein im Tandem erbracht. Genauso wie die Autorin auch, mussten die beiden sich in verschiedene europäische Sprachen, die Kirchengeschichte und die Geschichte des Judentums (um nur einige Themenbereiche zu nennen) vertiefen. Denn die kulturelle Vielfalt, die es in Europa auch schon im 18. Jahrhundert gegeben hat, spiegelt sich auch in der Sprache des Romans durch eine Vielfalt an Erzählstimmen und Erzählperspektiven aus verschiedensten Milieus der Gesellschaft wider. Die so entstandene Übertragung hat vielfach etwas Schnörkelloses, Direktes, obwohl die Gliederung einzelner Satzteile stellenweise eigentümlich anmutet. Die Sprache verfällt nur selten (Anfang und Ende) in Spielerei und Verschachtelungen. Palmes und Quinkenstein gelingt es, dieser Vielfalt gerecht zu werden und dem breiten Vokabular und den vielen Eigenbegriffen spezifischer Idiome Entsprechungen beizulegen, ohne aber in wilde Sprachhaspelei zu verfallen. Man kann nur staunen ob der Mammutaufgabe, derer sich die beiden bravourös angenommen haben. (Wer sich weiter informieren möchte, hier eine Übersetzungskritik von TraLaLit sowie das Übersetzungsjournal von Palmes und Quinkenstein).

Diese Übersetzungsleistung ist des Weiteren beachtlich, wenn man sich das Erzählkredo des Romanes zu Gemüte führt. Einem betagten Schriftsteller und Offizier legt Tokarczuk ganz zu Ende des Romans Worte in den Mund, die man fast nicht anders kann, als als paradigmatisch für das ganze, nun fast bewältigte und gezähmte, Biest von Roman zu nehmen:

Denn unpräzise muss er sein, der Gegenstand dieses Romans, kann schliesslich nur noch in Einzelteilen belegt und verifiziert werden und enthält dazwischen sehr viel Fiktionalisierung. Trotz dieser Unschärfe, hat dieser Roman aber auch etwas Vollkommenes. Mit enzyklopädischem Umfang, aber auch mit dergleichen Genauigkeit, zeichnet die Autorin hier die Geschichte des Jakob Frank und seinen Leuten nach. Als Roman ist dieses Machwerk zwar keine leichte Kost, aber ein vollkommenes Stück übersetzte Literatur, ganz unabhängig von der Präzision seiner Form.

Die Jakobsbücher von Olga Tokarczuk.

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein.

Originalveröffentlichung 2014.

1184 Seiten.

Kampa.

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Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · Lesebändchen (schwarz) · Klebebindung

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