Glückselige Flaneure in fremden Städten

Über die Romane von Franz Hessel

Die scheinbare Leichtigkeit des irdischen Seins taucht in Franz Hessels Werk in jedem Satz von Neuem auf. Seine Figuren schlendern durchs Leben und die Städte. Im Lilienfeld Verlag sind alle drei zu Lebzeiten des Schriftstellers erschienenen Romane nun wieder lieferbar. Grund genug, einen genaueren Blick auf diesen faszinierenden Schriftsteller und sein Werk zu werfen.

Glückselige Flaneure in fremden Städten

Hessels Biografie und Rezeption liest sich wie so viele Biografien Deutscher Juden des 20. Jahrhunderts. 1880 in Stettin geboren, erschien sein schon zu Lebzeiten vielgeschätztes aber schlecht verkäufliches Hauptwerk zwischen 1913 und 1929. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war er gezwungen, Deutschland zu verlassen, wurde aber trotz erfolgreicher Flucht nach Frankreich interniert und starb 1941 im französischen Exil. Sein Werk ging daraufhin mehr oder weniger vergessen, bis es Ende der 80er langsam wiederentdeckt und auch in der Literaturwissenschaft vermehrt diskutiert wurde. Diese Wiederentdeckung kulminierte 1999, als im Igel Verlag eine 5-bändige Gesamtausgabe erschienen ist. Die innert kürzester Zeit vergriffene Ausgabe erfüllte dabei die erste Nachfrage nach Hessels Werk.

Als in den 2010er Jahren das Interesse um Hessel neulich zunahm (was auch mit seinem Sohn Stephané und dessen Gang ins Rampenlicht zusammenhing), wurden in einigen Verlagen neue Ausgaben der Romane veröffentlicht (Suhrkamp, Berlin Verlag, Omnium, idb, Lilienfeld) und auch die Gesamtausgabe wurde 2013 neu aufgelegt. Von den Romanausgaben stechen diejenigen aus dem Lilienfeld Verlag besonders hervor. Einerseits, weil sie alle drei Romane umfassen und andererseits, weil die Ausgaben exzellent gemacht sind. Sie kommen im schmucken Halbleinen-Kleid der Reihe Lilienfeldiana daher, wurden mit Nachworten von Manfred Flügge bedacht (der wesentlich zur Wiederentdeckung Hessels beigetragen hat) und sind zudem kompakt und erschwinglich. Seit diesem Herbst sind alle drei Romane wieder lieferbar, weshalb sie für diesen Beitrag als Grundlage dienen werden.

Drei Romane von Franz Hessel.

Man darf heute sagen, dass es um Hessels Werk gut steht. Es ist problemlos (und in erschwinglichen Ausgaben) verfügbar und durch die Gesamtausgabe besteht eine gesicherte Textgrundlage. Und damit steht es deutlich besser da, als das Gesamtwerk vieler anderer Schriftsteller*innen des frühen 20ten Jahrhunderts. Einzig in der Wahrnehmung bleibt Hessel weiterhin ein Vergessener und gemeinhin Unbeachteter, dem ein Platz im Kanon – wie so vielen anderen auch – klar zustünde.

Literaturwissenschaftliche Betrachtungen der Werke Hessels beschränken sich gerne auf den Typus des Flaneurs und verweisen dabei auf sein wohl bekanntestes Werk Spazieren in Berlin (hier nicht weiter diskutiert, unter anderem erhältlich in einer Ausgabe des Verlags für Berlin-Brandenburg). Vergessen gehen dabei aber oft die komplexen autobiografischen Bezüge in Hessels Werk und die damit verbundene Nachkonstruktion der eigenen Vergangenheit. Ähnlich einseitig sind die biografischen Annäherungen an Franz Hessel, die oft auf der Dreiecksbeziehung zwischen Hessel, seiner Frau Helen und Henri-Pierre Roché verharren. Roché hat diese Beziehung im autobiografischen Roman Jules et Jim verarbeitet, dessen Stoff spätestens durch den gleichnamigen Film von François Truffaut weltweite Berühmtheit erlangen sollte. Vergessen geht bei dieser Annäherung aber die Verbindung Hessels zu Frankreich, der sich sowohl in Paris wie auch in Berlin heimisch fühlte sowie sein jüdischer Hintergrund. Ein Artikel wie dieser kann und will diese Mängel nicht beheben, sondern folgt einem viel einfacheren Antrieb: Lust auf das Werk von Franz Hessel zu machen. Die Begeisterung zu entfachen, sich in Hessels Romane zu stürzen um dieses komplexe und vielschichtige Werk zu entdecken, das sich hinter hinreissend leichtfüssigen Motiven und Sprache versteckt.

Drei Romane von Franz Hessel.

Der Kramladen des Glücks

Hessels erster und mit Abstand längster Roman Der Kramladen des Glücks, erzählt die Kindheit und Jugend von Gustav Behrendt nach. Der kleine Gustav verliert früh seine Mutter, wächst relativ unbehelligt zum jungen Mann heran, zieht fürs Studium von Berlin nach München und sucht dort, meist erfolglos, nach der Liebe und dem Glück.

Die prototypischen Merkmale der Literatur Hessels sind bereits in diesem Roman fast in Vollendung zu finden. Ein junger männlicher Protagonist, der durchs Leben schlendert, verschiedenen Liebschaften nachhängt, aber nirgends so recht Anschluss finden mag. Gustav, wie auch alle anderen Protagonisten in den folgenden Romanen, bleibt ein Aussenseiter, steht durch seine Introspektion und träumerische Weltabgewandtheit neben der Spur. Er verkörpert dabei denselben Figurentypus, der sich auch in den späteren Romanen wiederfindet, denjenigen des Flaneurs. Hessels Flaneure lassen sich ganz bewusst durchs eigene Leben treiben, halten inne, verweilen immer wieder und scheinen nie ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Das zeigt auch, wie sich der Flaneur vom Schelm unterscheidet, dem Flaneursein steht mindestens eine bewusste Entscheidung bevor, nämlich die zur Flaniererei. Während der Schelm durchs Leben getrieben wird, ohne sich je bewusst dafür entschieden zu haben.

Unter der fettgeschmierten Oberfläche glückseliger Prosalieblichkeit versteckt sich aber auch sehr viel Tiefgang, der leicht überlesen werden kann. Das ist zwar der «Bildungsroman eines Taugenichts», wie Manfred Flügge im Nachwort treffend anmerkt, es ist aber auch der einzige Roman Hessels, der Themen wie das Judentum und Selbstmord mehr oder weniger direkt thematisiert. Dabei zeigt sich auch, dass der Schriftsteller Hessel bei der Niederschrift des Kramladens noch im Entstehen begriffen war. Sprachlich zwar bereits nahe an der Vollendung, greifen die sprachlichen Mittel noch nicht immer und das Werk ist zu lang, kann die Spannung nicht über die gesamte Länge aufrechterhalten. Auch verstand es Hessel hier noch nicht so gekonnt wie in den späteren Werken, die schweren Themen zu kaschieren.

Pariser Romanze & Heimliches Berlin

Denn im Vergleich zum Kramladen präsentiert sich die Pariser Romanze schon deutlich zugespitzter und verdichteter, sowohl in der Erzählung selbst, wie auch in der Form. Gerade einmal etwas mehr als 100 Seiten umfasst der Briefroman. Ein junger Protagonist schreibt von der Front an seinen Freund Claude, erinnert sich dabei an die Stadt Paris und an seine Liebschaft mit Lotte, der er alle Ecken und Gräben von Paris gezeigt hat.

Drei Romane von Franz Hessel.

Auch hier kann man eine Liebeserklärung an das “verlorene” Paris lesen, eine seichte Liebelei, dargelegt in Briefform. Aber spätestens bei diesem Werk muss man feststellen, dass Hessel sich in jedem seiner Romane selbst zur Hauptfigur auserkoren hat und in grossen Stücken sein eigenes Leben fiktionalisiert. Die Stationen des Gustav im Kramladen decken sich mit den Lebensstationen Hessels und die Pariser Romanze kann eigentlich nichts anderes erzählen, als die Erlebnisse eines vom Krieg traumatisierten Hessels und der beginnenden Liebesbeziehung zu seiner späteren Frau, Helen Grund.

Hessel treibt dabei die in seinem ersten Roman dargebrachten Stilmittel zur Perfektion. Sprachlich brillant, versprüht der Text mit seiner Sprache einen feinen Nieselregen, in dem sich alle Farben des Regenbogens spiegeln und aufs Neue zusammenfinden. Die weiterhin vorhandenen tiefergehenden Themen wie Krieg und unerfüllte Liebe, sind sehr viel besser versteckt und verschleiert, bekommen nur noch ab und an einen kurzen Hauptsatz zugestanden, müssen aber ansonsten der Strenge und Schönheit der sprachlichen Form weichen.

Drei Romane von Franz Hessel.

Der dritte und letzte zu Lebzeiten fertiggestellt und veröffentlichte Roman Hessels zeigt ihn auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Sollte man nur eines der Bücher von Hessel lesen wollen, dann dieses. Sprachlich unglaublich präzise, unterfüttert mit Weisheiten eines Lebenserfahrenen, wird darin die Geschichte des jungen Wendelin und seiner Liebschaften erzählt. Genauso wie in der Romanze auch, ist der eigentliche Fokus aber nicht der porträtierte Jüngling, sondern die Stadt, nach der der Roman benannt ist.

Ja, man kann Franz Hessel vorwerfen, immer nur das Gleiche geschrieben zu haben. Jünglinge, Taugenichtse, die nach der Liebe suchen. Dies hat er aber einerseits sprachlich berauschend gemacht, andererseits unterläuft eine solche Sichtweise die komplexen autobiografischen Bezüge, die gekonnte Verschleierung ernster Themen und die Ausstrahlung dieser Texte. Manfred Flügge, der die drei Lobgesänge Nachwörter zu den Romanen verantwortet, fasst das Werk Hessels und dessen innersten Kern im Nachwort zur Romanze so gekonnt zusammen, dass wir ihm hier das Schlusswort überlassen wollen:

Manfred Flügge über Franz Hessel im Nachwort von Heimliches Berlin, S. 128.

Wichtiger ist, daß hier dieselbe Strategie der sanften Umdeutung der realen Lebensverhältnisse am Werke ist wie in allen Texten von Hessel. Sehr nahe an der Realität, von der wir wenig wissen. Aber die Umdeutung und das Erfundene sind erhellend für seine Weltsicht. Die Gefühlsanalyse und der Zauber der Beschreibungen sind hier wichtiger.

Der Kramladen des Glücks von Franz Hessel.

Franz Hessel: Der Kramladen des Glücks.

Veröffentlichung 2012. 2. Auflage 2018.

Originalveröffentlichung 1913.

Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.

Reihe: Lilienfeldiana Band 14

320 Seiten.

Lilienfeld.

Webseite zum Buch

Zum Buch:
bedruckter Einband (Halbleinen) · farbiges Vorsatzpapier (hellblau) · Lesebändchen (hellbraun) · fadengeheftet

Pariser Romanze von Franz Hessel.

Franz Hessel: Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen.

Veröffentlichung 2012. 2. Auflage 2019.

Originalveröffentlichung 1920.

Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.

Reihe: Lilienfeldiana Band 15

144 Seiten.

Lilienfeld.

Website zum Buch

Zum Buch:
bedruckter Einband (Halbleinen) · farbiges Vorsatzpapier (dunkelblau) · Lesebändchen (hellblau) · fadengeheftet

Heimliches Berlin von Franz Hessel.

Franz Hessel: Heimliches Berlin.

Veröffentlichung 2012. 3. Auflage 2017.

Originalveröffentlichung 1927.

Mit einem Nachwort von Manfred Flügge.

Reihe: Lilienfeldiana Band 12

160 Seiten.

Lilienfeld.

Website zum Buch

Zum Buch:
bedruckter Einband (Halbleinen) · farbiges Vorsatzpapier (dunkelgrün) · Lesebändchen (hellbraun) · fadengeheftet

Berücksichtigte Sekundärliteratur:
Nieradka, M. L. (2003). Der Meister der leisen Töne: Biographie des Dichters Franz Hessel. Igel Verlag.

Zum Verlag:
«Eine Nussschale mit schwerem Bergungsgerät» soll er sein, der Lilienfeld Verlag. Seit 2007 werden in Düsseldorf zeitlose Texte aus dem Vergessen geholt und in bibliophilen Ausgaben wieder unters Volk gebracht. 2011 mit dem Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung ausgezeichnet.