Vielstimmig von Andrea Maria Keller

Vielstimmig von Andrea Maria Keller.

Im Gedichtband “Vielstimmig” von Andrea Maria Keller sind 77 Gedichte, gebündelt in 4 Teile, versammelt. Flankiert werden die Gedichte von 120 Haiku und Tanka. Alleine aus der schieren Menge an Material ergibt sich hier zwangsläufig die titelgebende Vielstimmigkeit. Man wird geradezu erschlagen von Material. Im vorliegenden Fall ist dies glücklicherweise kein Nachteil. Kellers Lyrik wird getragen von dieser Vielfältigkeit, man kann sich regelrecht verlieren im Vielklang, der hier äusserst harmonisch aufklingt.

Innerhalb der Vielzahl der Stimmen stechen zwei Stimmen besonders hervor. Dies einerseits, weil diese beiden Stimmen häufig auftauchen und weil sie, andererseits, eine besondere Wirkmacht haben. Die erste Stimme ist diejenige der genauen Alltagsbeobachterin, die die Alltagsbeobachtungen als Ausgangspunkt der Gedichte wählt und in der Folge den Alltag poetisiert. Die zweite Stimme ist die einer Suchenden, eine, die sich die Liebe erklären lassen will, die Zeit zu verstehen sucht und sich auch manchmal wünscht, die Vergangenheit verändern oder zumindest ruhen lassen zu können.

Nach dem Platzregen.
Im Rinnsal auf dem Flachdach
plantscht eine Krähe.
Andrea Maria Keller, Vielstimmig, S. 135.

Die Alltagsbeobachterin geht meist auf zwei Weisen vor. Auf die erste Weise bleibt sie beobachtend und erwirkt durch diese genau beobachteten Bilder die Poetisierung. Die Stimme bleibt da also ganz bei der Beobachtung, erhöht dies Beobachtung aber in ein wirkmächtiges Sprachbild. Gerade die im letzten Teil “Ahnungslos vermählt” gesammelten, und nach Jahreszeiten geordneten, Haiku und Tanka bestechen durch diese genau umrissenen Szenen.

In einer zweiten Weise, immer dann, wenn sie mehr Raum bekommt, erweitert die Alltagsbeobachterin ihre Szenen um Kommentare und um poetische Überhöhungen. Die Beobachtung und daraus erwirkte Szenen dienen als Projektionsfläche, um Weitergreifendes zu diskutieren und Gedankengänge anzuregen. Ab und an durchläuft diese Stimme auch einen Kreislauf, startet mit der Beobachtung, überhöht und poetisiert diese und kehrt dann schlussendlich wieder zu einer Beobachtung zurück.

Nachricht
Noch immer kehren sie um, die Rothirsche,
dort, wo einst der Drahtzaun stand,
obschon der Eiserne Vorhang
seit Jahrzehnten nicht mehr existiert.

Das - so sagte sachlich eine Stimme
im Rundfunk während des Mittagessens -
stellten Forscher kürzlich fest.

Wo kehren wir um, ganz von selbst,
scheuen vor Grenzen, die seit
Menschengedenken in unseren Zellen
gespeichert sind, elektrischen Zäunen gleich?

fragte nüchtern eine Stimme
am Stammtisch in mir.
Andrea Maria Keller, Vielstimmig, S. 32.

Die zweite Stimme, die der Suchenden, startet immer sogleich mit einem poetischen Programm, arbeitet mit Konzepten wie Liebe und Zeit. Erlaubt sich wiederum auch eine gewisse Naivität, denn als Suchende ist sie immer mit offenem Herzen und mit wenigen Vorkenntnissen unterwegs. Diese Stimme bleibt aber nicht nur suchend. Immer wieder fordert sie auch, will mehr wissen, genauer erklärt bekommen und wirft manchmal auch Behauptungen in den Raum, in der Hoffnung, Antworten zu erhalten. Bleibt dabei aber suchend, die gefundenen Antworten sind nie endgültig. Die Stimme der Suchenden ist eindringlich, weil sie sich Naivität erlaubt, manchmal nahe am Kitsch vorbeisucht, nie aber überkippt und weiterhin von der Neugierde getrieben wird.

In der Vielstimmigkeit der Lyrik Andrea Maria Kellers wird es möglich, eine Vielzahl von Themen von verschiedenen Ausgangspunkten zu beleuchten und zu besprechen. Die Gedichte erhalten sich durchwegs ihrer poetischen Wirkmacht. Ich möchte noch lange und noch tiefer in diesen Gedichten versinken. Dieser Vielstimmigkeit höre ich einfach gerne zu. Denn der daraus resultierende Klang ist ein äusserst harmonischer.

Vielstimmig von Andrea Maria Keller.

Andrea Maria Keller: Vielstimmig.

176 Seiten.

Edition Howeg.

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