Der ungeheuerliche Blick auf die Geschichte – Wir Sklaven von Suriname von Anton de Kom

Übersetzt aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann

Ein Buch, das selbst so ungeheuerlich ist, wie die Wahrheiten, die es erzählt. Der Niederländisch-Suriname Anton de Kom hat 1934 die Kolonialgeschichte der Niederlande, oder genauer die Geschichte der Sklaverei in Surinam, niedergeschrieben.

Der ungeheuerliche Blick auf die Geschichte

Ende des ersten Satzes, S.22.

[A]rm an Menschen, ärmer noch an Menschlichkeit.

So schliesst Anton de Kom den ersten Satz seiner Anklage- und Erinnerungsschrift ab und greift damit bereits vor, was auf den nächsten Seiten noch folgen wird: Eine Geschichte, die Menschlichkeit und Unmenschlichkeit in einen ungeheuerlichen Kontrast wirft, weil die eine erwächst, obwohl es kaum möglich scheint, während die andere immer wieder neue, noch grausamere Züge annehmen wird.

Wir Sklaven von Suriname war lange Zeit verboten, nach der Aufhebung des Verbots war es bereits ins Vergessen geraten und erst im letzten Jahr wurde es in den Niederlanden wiederentdeckt, und erscheint nun erstmals auf Deutsch. Lange hat es also gedauert, bis diese bahnbrechende Schrift sich ihren Weg in ein grösseres Bewusstsein bahnen konnte. De Kom erzählt die Geschichte Surinames mit penibler Detailtreue, weder die unmenschlichen Ungerechtigkeiten, noch die genauen Foltermethoden werden ausgespart. Fast jedes Klischee, und ganz sicher jede Grausamkeit, der europäischen Kolonialgeschichte lässt sich in der Geschichte des südamerikanischen Staates finden. De Kom schreibt gewissenhaft, beruft sich oft auf Originalquellen und die darin verschriftlichten Begebenheiten. Duco van Oostrum fasst diese erzählerische Grundhaltung in seinem Nachwort treffend zusammen:

Duco van Oostruum in seinem Nachwort, S. 203.

Gleich einem Wahrheitsbeweis kommt de Kom immer wieder darauf zurück, dass sein Buch auf »Fakten« beruhe: »Auch hierfür möchten wir an erster Stelle einige Fakten als Beispiele anführen« (S. 46). Es ist eine Nacherzählung dessen, was schon im Archivschrank liegt.

Trotz dieser Quellenbeflissenheit, trägt der Text viel literarische Wucht. Stellenweise schon fast poetisch, andernorts wieder mit kühler analytischer Schärfe, aber immer mit der glühenden Feder des Anklagenden: De Kom schreibt als einer der Unterdrückten, in der Sprache und Form der Unterdrücker und arbeitet sich an seinem «Wahrheitsbeweis» ab, nur dass damit eben nicht die Existenz Gottes, sondern eher dessen Gegenteil bewiesen werden soll. Das Wir im Titel ist aber ernstzunehmen, gegen Ende des Buches wird die nacherzählte Geschichte des Landes zu seiner eigenen; de Kom kehrt in sein Heimatland zurück, wird dort inhaftiert und muss Suriname schlussendlich für immer verlassen.

Birgit Erdmann hat den Band aus dem Niederländischen in ein etwas altertümliches, gestelztes Deutsch übertragen und trifft damit genau den Ton, mit dem Anton de Kom geschrieben hat. Besonders gelungen ist Erdmann der Wechsel zwischen den poetischen Passagen und dem verklausulierten Kolonial- und Beamtendeutsch, das sich in den vielen Zitaten und Hinweisen auf die Ereignisse häufig findet.

Cover von Wir Sklaven von Suriname.

Bei allen Gräueltaten und aller Ungerechtigkeit, die es zu beklagen gilt und die Anton de Kom akribisch dokumentiert, verfällt der Ton trotzdem nie in Bitterkeit. De Koms Werk liest sich als Botschaft für das Gute, für die Solidarität und für ein neues Miteinander. Oder wie es der Autor selbst zitiert, erträgt er alles mit «Ergebenheit», ebendieser Geisteshaltung, gegen die alle Gewalt und alle Ungerechtigkeit nie ankommen wird. Gepaart mit seiner analytischen Schärfe, erwächst eine Streitschrift, gegen die nur schwer anzukämpfen ist.

Anton de Kom hat genauso gelebt, wie er geschrieben hat. Während des Zweiten Weltkrieges hat er sich dem niederländischen Widerstand angeschlossen. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo ist er 1945 im Konzentrationslager Neuengamme gestorben. Geblieben ist dieses Buch, das zwar viel zu spät entdeckt wurde, dafür aber umso unerbittlicher zu einem europäischen Denken gehören muss. De Kom begegnet der Macht, wie man ihr als Unterdrückter nur begegnen kann: mit messerscharfem Verstand, gegossen in ein ungeheuerliches Buch.

Wir Sklaven von Suriname von Anton de Kom

Anton de Kom: Wir Sklaven von Suriname.

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann.

Mit Beiträgen von Mitchell Esajas, Tessa Leuwsha, Duco van Oostrum.

Originalveröffentlichung 1934.

224 Seiten.

Transit.

Webseite zum Buch

Zum Buch: bedruckter Umschlag · farbiger Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (orange) · Klebebindung

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«Kultur, Geschichte, Literatur», so fasst Wikipedia das Programm des Transit Verlags zusammen. Man könnte aber auch sagen, dass sich im Transit Verlag literarische Funde tummeln, dass man dort viel Ungewöhnliches und Freches, Aufregendes und Frisches entdecken kann, aber wer will sich schon mit Wikipedia-Moderatoren anlegen.