All die Nacht über uns von Gerhard Jäger

Mir wurde vom Verlag ein elektronisches Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

Aus dem österreichischen Picus Verlag liegt heute ein Roman zur Besprechung vor, der auch für den österreichischen Buchpreis (Shortlist) nominiert war. Also eines dieser Bücher, die schon mit einigen Vorschusslorbeeren daher kommen. Man mag von diesen Preisen halten, was man will, aber den Picus Verlag und Gerhard Jäger kannte ich bisher noch nicht, ohne den Preis gäbe es diese Besprechung also auch nicht. Hat also doch auch sein Gutes, gerade um neue Autoren und Verlage zu entdecken.

In einem unbestimmten Land, in einem unbestimmten Dorf, an einer unbestimmten Grenze hält ein Soldat Wache. Alleine steht er auf seinem Turm vor einem Zaun und hat die ganze Nacht Zeit, seine Vergangenheit und Zukunft zu reflektieren. Der namenlose Soldat reflektiert über sein bisheriges Leben, seine Familie, die Geschichte seiner Grossmutter und über die Lage des Landes, denn nur deshalb steht er jetzt auf diesem Turm, vor diesem Zaun, an dieser Grenze.

Leider hat mir “All die Nacht über uns” so überhaupt nicht gefallen und wenn ich nicht im Flugzeug gesessen hätte, hätte ich den Roman wohl nicht fertig gelesen. Die Voraussetzungen wären alle da für einen grossartigen Roman: eine spannende Hauptfigur, ein packender Ausgangskonflikt passend zu unserer Zeit und die Dunkelheit und die Nacht als Leitmotive, die sich wie im Rausch entfalten könnten.

Trotzdem hat es für mich nicht Klick gemacht und ich habe lange gerätselt, weshalb dem so ist und bin dann zu folgendem Schluss gekommen: Dem Roman fehlt die Eindeutigkeit. Ausser in den Erzählungen der Grossmutter werden nie Ortsnamen oder Ähnliches erwähnt, die Geschichte soll ausser Raum und Zeit stehen. Und es ist natürlich klar, was dieses Stilmittel bezwecken soll, es ist egal, an welcher Grenze man ist, an welchem Ort, zu welcher Zeit. Diese Grenze, dieser Zaun, dieser Turm, könnten überall stehen. Aber das funktioniert für mich nicht, ein Grund weshalb mich beispielsweise “Die Zähmung der Tiere” von Ada Dorian (Rezension) so berührt und durchgeschüttelt hat, ist gerade, weil der Roman nur in der Türkei von 2016 spielen kann. Und dann in dieser Verankerung an Ort und Stelle viele Beobachtungen macht, die weit über die Türkei hinausgehen. Das Globale im Lokalen verankert. Grosse Literatur ist meist gerade auch so gut, weil die Geschichte die erzählt wird, nur so und nicht anders erzählt werden kann. Eindeutigkeit schützt vor Beliebigkeit.

Bei diesem Punkt kann man natürlich geteilter Meinung sein und so wird die Uneindeutigkeit viele wohl nicht stören. Der Nachteil des solchen Erzählens ist dann aber, dass immer wieder auf Beschreibungen zurückgegriffen werden muss, wenn man dann zum gefühlt hundertsten Mal von “dieser nördlichen Stadt” gelesen hat, dann nervts.

Den zweiten Kritikpunkt, den ich anbringen muss ist, dass der falsche Konflikt als zentraler gewählt wurde. Zentral ist hier, nämlich nicht der extrem spannende Konflikt des Soldaten an einer Grenze, sondern der der inneren Zerrissenheit des Soldaten aufgrund seiner Familiengeschichte. Damit werden aber dann die grossen Themen, die der Roman eigentlich behandeln könnte wieder eingepackt, ich empfand dies als sehr schade, da es für die Aufarbeitung der inneren Zerrissenheit des Soldaten das ganze Setting an der Grenze nicht gebraucht hätte.

Was mir wirklich gut gefallen hat, ist die Sprache und der Stil (natürlich mit Ausnahme der Uneindeutigkeit). Jäger schreibt in langen, verschachtelten Sätzen und arbeitet stark mit assoziativer Sprache, was wirklich gut gelingt.

Was bleibt also? Für mich war der Roman leider nichts, weil mich die Uneindeutigkeit des Romans zu sehr gestört hat und gerade auch aufgrund des Stils, der mit vielen Repetitionen arbeitet, immer wieder ins Gedächtnis gerufen wurde. Allen anderen empfehle ich die Leseprobe, wenn einem der Stil auf diesen paar Seiten zusagt und man sich nicht an der Uneindeutigkeit stört, so lohnt sich ein Griff zum ganzen Buch allemal. Denn, dies ist mir wichtig zu betonen, das ist ein gut geschriebener Roman, der sich packend liest, war halt einfach nichts für mich.

Verlagsseite


Gerhard Jäger: All die Nacht über uns, erhältlich als Hardcover und E-book, 240 Seiten, Picus.