Zur Gleichförmigkeit des Lebens – Straumēni von Edvarts Virza

Übersetzt aus dem Lettischen von Berthold Forssman

Dieser eigentümliche lettische Klassiker kommt fast ohne Handlung und Figuren aus. Ohne Höhepunkte. Doch aus genau diesem unaufgeregten Gleichklang bezieht der Roman einen grossen Teil seines wesentlichen Faszinosums.

Zur Gleichförmigkeit des Lebens

Wenn wir ehrlich sind, könnte man über jedes Buch des Guggolz Verlages sagen, dass es aus der Zeit gefallen sei und einer Literaturtradition folgt, die so gar nicht in die heutige Zeit passen will. Aber, bei keinem scheint es so angebracht wie bei Edvarts Virzas Straumēni. Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht, die paar wenigen Figuren die namentlich oder explizit erwähnt werden, machen und erleben kaum bemerkenswertes. Es beginnen Handlungsstränge, die dann ins Nichts verlaufen und nie wieder aufgegriffen werden. Wie es den Figuren geht, was sie Denken, Fühlen, man kann es nur vage vermuten. Eigentlich sind das keine guten Vorzeichen für einen Roman, oder zumindest höchst sonderbare. Und trotzdem oder gerade deswegen blieb mir Straumēni noch lange im Kopf und im Herzen.

Der Roman erzählt über ein Jahr hinweg die Geschichte eines lettischen Gutshofes. Die Kapitel folgen den vier Jahreszeiten, beginnend mit dem Frühling. Über dieses Jahr begegnen wir den Figuren, ausführlichen Beschreibungen der Feld- und Heimarbeiten, einigen Festen und Naturereignissen. Und damit hat es sich. Es gibt keine Höhepunkte, Spannungskurve oder Dramatik, es ist der Gleichklang des bäuerlichen, einfachen Lebens, der diesen Roman auszeichnet. Denn trotz dieser Handlungs- und Spannungsarmut, übt der Roman eine grosse Faszination aus.

An erster Stelle dieser Faszination steht die Sprachkunst, die in der deutschen Version auch grosse Übersetzungskunst ist. Berthold Forssman hat den Text aus dem Lettischen übertragen und dabei nicht nur eine sehr schöne, umschweifige und poetische Sprache dafür gefunden, sondern auch sehr gekonnt die vielen mittlerweile kaum mehr bekannten und stellenweise sehr spezifischen landwirtschaftlichen Techniken und Geräte in den Text eingeflochten, ohne die moderne Leser*in abzuhängen oder in unnötige Erklärungswut zu verfallen. Gerade ein Roman, der fast ausschliesslich von seiner Sprache lebt und Inhalt und Handlung zurücktreten lässt, fordert eine engagierte Übersetzung, die auch der ursprünglichen Sprachgewalt des Textes gewachsen ist. Forssman ist dies vollumfänglich gelungen.

Straumēni ist auch ein so faszinierendes Stück Literatur, weil Virzas Erzählung zwar idyllisch wirkt und idyllische Leben beschreibt, selbst aber nie zu einer Idylle verkommt. Das ländliche Leben wird zwar stilisiert und damit auch poetisiert, verkommt aber nie zu einer Verklärung, die die ökonomischen Schwierigkeiten und andere Missstände ausser Acht lassen würde. Illustrieren lässt sich dieses vordergründige Paradoxon an der Vermischung des lettischen Volksglaubens und der Religion der christlichen Eroberer, worauf Forssman im Nachwort noch genauer eintritt. Die christlichen Feste werden alle gefeiert, die Sonntage werden in der Kirche begangen, diese Anpassung an den christlichen Glauben wird aber vermischt mit der ursprünglichen Mythologie der Region. Geister und Götter streichen umher und stehen in scheinbarer Symbiose mit dem neuen Heilsversprechen. Diese Verbindung des scheinbar Unvereinbaren zeigt die Erzählhaltung des Romans auf, es wird nichts verklärt, vieles verliert aber die Brisanz, wenn es im Gleichklang des Lebens zerfliesst. Viel wichtiger ist die Ernte, der geschlagene Flachs, das zur Mühle gebrachte Getreide, die Versorgung der vielen Tiere.

Straumēni ist einer dieser Romane, die unwiederbringlich in ihrer Entstehungszeit verankert sind und gerade deswegen auch in der Gegenwart funktionieren. Denn ist doch gerade das darin erzählte idyllische, naturgewandte Leben eines, das uns heute fremd und dadurch umso erstrebenswerter erscheint. Und so wird aus der idyllischen Beschreibung tatsächlich eine Idylle, vielleicht sogar eine Utopie. Nicht, weil dies im Text so vorgesehen wäre, sondern schlicht und ergreifend wegen der Zeit, in der dieses grossartige Buch wieder rezipiert wird.

Straumēni von Edvarts Virza

Edvarts Virza: Straumēni.

Aus dem Lettischen von Berthold Forssman.

Mit einem Nachwort von Berthold Forssman.

Originalveröffentlichung 1933.

334 Seiten.

Guggolz.

Webseite zum Buch

Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (braun) · Lesebändchen (dunkelbraun) · fadengeheftet

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Der noch junge (2014) Guggolz Verlag stellt nur vier Bücher pro Jahr her. Diese Bücher sind allesamt Übersetzungen, entweder komplett neu übersetzt oder als Neuausgabe. Ganz im Sinne von Trüffelsuchenden werden hier vergessene Werke wieder sichtbar gemacht. Immer auch entsprechend kommentiert und um Nachworte versehen. Der Verlag erhielt 2017 den Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung.

Verleger Sebastian Guggolz war zu Gast im BookGazette Podcast. Nachzuhören hier:

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