Die Urteile oder das Leben der Anderen – Die Vögel von Tarjei Vesaas

Übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel

Der Blick eines Aussenseiters. Er blickt, schaut, beobachtet, hört – und denkt. Aus diesem Blickwinkel erzählt Tarjei Vesaas von der Welt und von einem, der seinen Platz darin nicht so recht zu finden vermag.

Die Urteile oder das Leben der Anderen

Man mag kaum glauben, dass dieser Roman erst 1957 entstanden ist, so aus der Zeit gefallen ist er. Es gibt zwar Autos, die fahren aber nur vorbei, die Menschen darin zählen nicht, sie wollen nicht reden oder teilhaben, sie wollen nur schnell von A nach B kommen. Ausgenommen von dieser Hektik sind Mattis und Hege. Die beigen Geschwister leben etwas abgelegen in einem einfachen Holzhäuschen neben einem Fichtenwald, vor dem Häuschen steht ein grosser See. Beide sind sie in ihren Vierzigern, Mattis arbeitet nicht und wird von Hege durchgefüttert. Er wird von allen nur als «Dussel» bezeichnet, die Leute sind froh, wenn er morgens nicht bei ihnen auftaucht und um Arbeit bittet. Hege hält die beiden mit Strickarbeiten über Wasser und kümmert sich um ihren Bruder, so wie es gerade möglich ist.

Vesaas erzählt die Geschichte dieser beiden Geschwister komplett aus Mattis’ Blickwinkel. Mattis weiss und merkt sehr wohl, was die Leute über ihn reden und denken. Die «Klugen» unter ihnen begegnen ihm ohne Vorurteil, sie lassen ihm seine Gedanken in der manchmal unpassenden Art, wie sie gerade herauskommen. Mattis kämpft nicht nur gegen die Aussenwelt, er kämpft auch innerlich gegen die Gedankenstrudel im Kopf, gegen die Vorwürfe, die er sich selbst (aber auch Hege) macht. Dass er doch endlich auch Geld nach Hause bringen soll. Mattis ist sehr wohl bewusst, welche Last er ist, kommt aber gegen die inneren Zwänge nicht an.

Auch erschienen von Vesaas: Das Eis-Schloss, Guggolz Verlag (Zur Besprechung) und drei Bände mit Gedichten und Prosa im Kleinheinrich Verlag. Beide in der Übersetzung von Schmidt-Henkel.

Die Sprache im Roman erscheint schlicht, sie folgt dem Denken Mattis’. Aber bereits da spielt Vesaas mit seinen Leser*innen. Das Vokabular mag begrenzt und klar sein, die daraus resultierende Sprache ist es nicht, sie ahmt die Einfachheit nur nach. Im Grunde genommen ist es ein imitierendes Sprachspiel, welches der Roman treibt. Man glaubt der Schlichtheit wegen zwar, den Gedanken von Mattis zu folgen, wird aber arg getäuscht: In ihrer Schlichtheit kaschiert die Sprache die von ihr ausgehende poetische Wärme. Natürlich kann man diesen Gedankengang auch umdrehen: In der simulierten Schlichtheit glauben wir, Mattis ganz nahe zu sein, ihm beim Denken über die Schulter zu schauen und werden wieder, getäuscht. Diese genau gearbeiteten Sprache verlangt nach einer entsprechenden Übersetzungsleistung, was Hinrich Schmidt-Henkel wiederum zur Perfektion gelungen ist. Die Detailversessenheit und poetische Schärfe der Übersetzung zeigt sich am eindrücklichsten im Abgleich mit dem ebenfalls von Tarjei Vesaas verfassten und von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzten Roman Das Eis-Schloss. Dort ist die Sprache zwar auch schon schlicht und direkt, sie ist aber viel verspielter und verschnörkelter. Hier, weil der Roman nur aus der Perspektive von Mattis erzählt wird, ginge das nicht, die Sprache muss direkter sein, dem Erleben von Mattis angepasst. Dass man diesen erzählerischen Kniff auch in der Übersetzung so gut – und so genau – verfolgen kann, liegt an einer, wie so oft bei Schmidt-Henkel, herausragenden Übersetzung.

Die Genauigkeit im Arbeiten zeigt sich bei Vesaas auch in seiner zärtlichen Hingabe zu den Figuren. Kein einziges Urteil wird im Roman von der Erzählstimme über Mattis gefällt, solche Urteile sind stets Urteile der anderen Figuren, die Mattis weder verstehen, noch sich die Mühe dazu wirklich machen wollen. Mattis darf zumindest für die Erzählstimme so sein, wie er ist. Und in diesem Wesen angelegt ist eine tiefe Verbindung zur Natur. Der Blitz, der sich bereits in den ersten Sätzen bemerkbar macht, hat prophetische Wirkung, der Wind sogar Entscheidungsgewalt. Die Vögel, die über das Haus von Hege und Mattis fliegen, sprechen zu Mattis und das Wasser und der See, zeigen Mattis in seinen glücklichsten und in seinen traurigsten Momenten. Am See verbinden sich die Schicksalsstränge, die von einem Ufer ans andere herangetragen werden.

Es ist schwer, diese Besprechung in normalen Worten und nicht in freudigen Ausrufen grosser Euphorie zu beenden. Am beeindruckendsten an Die Vögel ist die Komposition, die nahe an dem ist, was ich als vollkommen bezeichnen würde. Fast jede Zeile sitzt, jedes Motiv ist durchdacht, jedes gesprochene Wort trifft tief in die seelischen Zerwürfnisse der Figuren. Die ersten Sätze zeichnen bereits vor, was noch passieren wird, ohne diesen Anschein zu erwecken, so vorsichtig und genau gearbeitet sind sie.

Tarjei Vesaas: Die Vögel, S. 103.

Und die Augen sind zu.
und die Flüsse fließen nicht mehr.

Die Vögel von Tarjei Vesaas

Tarjei Vesaas: Die Vögel.

Aus dem Norwegischen (Nynorsk) von Hinrich Schmidt-Henkel.

Mit einem Nachwort von Judith Hermann.

Originalveröffentlichung 1957.

280 Seiten.

Guggolz.

Webseite zum Buch

Zum Buch: bedruckter Einband (Karton) · farbiges Vorsatzpapier (blau) · Lesebändchen (blau) · fadengeheftet

Weitere Übersetzungen von Hinrich Schmidt-Henkel

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Der noch junge (2014) Guggolz Verlag stellt nur vier Bücher pro Jahr her. Diese Bücher sind allesamt Übersetzungen, entweder komplett neu übersetzt oder als Neuausgabe. Ganz im Sinne von Trüffelsuchenden werden hier vergessene Werke wieder sichtbar gemacht. Immer auch entsprechend kommentiert und um Nachworte versehen. Der Verlag erhielt 2017 den Förderpreis der Kurt Wolff Stiftung.

Verleger Sebastian Guggolz war zu Gast im BookGazette Podcast. Nachzuhören hier:

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